Das stipendium wurde gefördert von:
Ziel:
Ich habe das Stipendium genutzt kreative Prozesse des kollektiven und solistischen Improvisierens aus der Sicht eines Theatermusikers zu beschreiben und zusammen zu tragen. Die Ergebnisse sind auf dieser Seite veröffentlicht und können Musiker*innen sowie Performer*innen als Inspirationsquelle dienen.
von Thomas Seher
Übersicht:
(1) Zusammenstellung Literatur zur Improvisation?
(2) Spannungsfelder der Improvisation
(3) Regeln beim Improvisieren
(4) Übungen für solistisches und gemeinsames Improvisieren
(5) Auszüge aus Interviews über Improvisation mit Theatermusikern
(6) Leitfaden zur Durchführung einer Improvisation
1. Zusammenstellung Literatur zur Improvisation
Da diese Übersicht keine wissenschaftliche Abhandlung über Improvisation werden soll, habe ich mich auf Zitate und Verweise beschränkt. Alle Quellen sind verlinkt.
Einen ganzheitlichen Zugang zum Verständnis der Improvisation gibt Georg Bertram:
Georg W. Bertram und Michael Rüsenberg:
Improvisieren! Lob der Ungewissheit
„Improvisieren ist eine beherrschte Tätigkeit, ein kontrollierter Kontrollverlust. Beherrschung ist in der Improvisation nicht an festgelegten, stabile Regeln gebunden. Vielmehr leiht die Beherrschung der Improvisation in der situativen Veränderung von Regeln und einem gelingenden Antworten auf etwas, mit dem man nicht gerechnet hat. Dieses Unerwartetes kann sich in verschiedenen Dringlichkeit zeigen. Vom plötzlichen Drumakzent bis hin zu Explosion der Apollo-Rakete. „
„…Improvisieren ist dennoch zielorientiert – es gibt eine Absicht!“
„Je mehr Erfahrung da ist umso besser kann man Improvisieren. Ein erfahrender Koch kann besser improvisieren als ein Lehrling.“
„Wir können etwas was uns unverhofft widerfährt für uns produktiv machen?“
„In dem Augenblick in dem wir gehalten sind zu improvisieren, haben wir als Konfrontation mit einem Impuls oder mit Unerwartetem bestimmt. Und so müssen wir reagieren. Hier und Jetzt.“
„Musiker ist Schöpfer und gleichzeitig Zeuge ihrer Produktion. Das Paradoxe der Improvisation ist: Man ist vorbereitet auf etwas, worauf man nicht vorbereitet ist.“
„Jedes Kunstwerk organisiert seine eigenen Normen. Die Regeln werden im Machen erfunden. “
„Jedes Improvisieren ist eine Eröffnung von Zukunft. Knapp gesagt handelt es sich beim Improvisieren also um ein gegenwärtiges (Re)-Agieren, das sich weiteren Reaktionen in der Zukunft aussetzt.“
Alessandro Bertinetto
Die aktuellste Veröffentlichung zum Thema Improvisation hat der italienische Philosoph und Improvisationstheoretiker Alessandro Bertinetto geschrieben. „Aesthetics of Imprivisation“.
Matthias Maschat
Eine sehr gute Zusammenfassung der Literatur über Improvisation gibt der Musikwissenschaftler Matthias Maschat auf der Seite „Lesekreis Improvisation“. Hier werden in regelmäßigen Videokonferenzen Themen zur „Improvisation in der Musik“ besprochen (Stand:2023).
Darüber hinaus beschreibt Maschat in seinem Aufsatz: Performativität und zeitgenössische Improvisation
5 Kategorien zur Charakterisierung der Improvisation: Präsenz, Aura: Ereignis, Emergenz, Materialität und Körperlichkeit.
Matthias Hänisch
Echtzeitmusik Berlin-Selbstbestimmung einer Szene )
„So besteht […] vor dem Hintergrund eines stabilisierten Interaktionsverlaufs die Möglichkeit der Transformation musikalischer Strukturen, die im Moment ihres Entstehens aus dem bisherigen Aufführungshergang heraus und aus dem Verhalten der Beteiligten nicht absehbar und auf keines Musikers Absicht oder Erwartung zurückführbar erscheint.“
Matthias Schwabe
Als Gründer des Zentrums für improvisierte Musik in Berlin (exploratorium) hat sich Schwabe viel mit pädagogischen Konzepten zur Improvisation mit Kindern und Erwachsenen auseinander gesetzt. Hier ist eine Liste zu vielen Texten zur Improvisation mit Übungen und Erfahrungsberichten aus der Praxis. Link
Ring der Gruppenimprovisation
Der Verein mit über 130 Mitgliedern bemüht sich um die qualitative Weiterentwicklung von Methodik, Theorie und Praxis der musikalischen Gruppenimprovisation.
Auf deren Seite gibt es eine Vielzahl von Quellen rund um das Thema Improvisation (Link)
2. Spannungsfelder der Improvisation
Die Grafik veranschaulicht die verschiedenen Spannungsfelder in denen improvisierte Musik wirkt. (Eine detaillierte Betrachtung wäre Gegenstand einer gesonderten Veröffentlichung ).
Der improvisierende Mensch ist aufgewachsen mit individuellen Erfahrungen und geprägt durch das „Fünf Faktoren Modell“ (Big Five), das seine Persönlichkeit und sein musikalisches Wissen prägt.
Ausdrucksmittel sind, neben Körper und Stimme, die Klangobjekte, Gegenstände, Instrumente oder Computer.
Was alle Musiker:innen miteinander teilen oder voneinander unterscheidet, sind die jeweiligen Kulturen, die sie geprägt haben. Gibt es Gruppenleiter:innen welche die Übungen anleiten oder organisiert sich die Gruppe selbst (Hierarchie versus Selbstorganisiation). Gerade im Westen erleben wir im Organisationsmanagement gerade ein Shift von Hierarchien hin zu Netzwerken – von Zentralisierung hin zu Dezentralisierung. Das was am Ende bei einer Improvisation heraus kommt, ist ein Produkt seiner Produktions- und Organisationsweise.
Die Stellung der Improvisation innerhalb der Musikkultur ist auf dieser Ebene ebenfalls entscheidend (z. Bsp. Improvisation in klassischer indischer Musik versus komponierter Orchestermusik in Europa).
Im Spannungsfeld der Gesellschaft spielen übergeordnete Konzepte eine Rolle, welche unser Denken und Handeln wesentlich bestimmen. Konzepte des individuellen Ausdrucks – also der künstlerischen Entfaltung des Selbst, die Suche und Begegnung mit dem Fremden sowie Musik als politisches Ausdrucksmittel, sind historisch gewachsen und bilden eine unsichtbare Folie hinter der sich alle anderen Ebenen wiederfinden. Würde man – egal in welchem Feld- beginnen die Merkmale zu verändern, würde man live eine Veränderung des Klangbildes erleben.
Spielregeln und Übungen zum solistischen und gemeinsamen Improvisieren
Fragt man mit Hilfe der künstlichen Intelligenz nach den Grundregeln der Improvisation werden folgende Regeln formuliert, die erstaunlich treffend sind (Quelle: ChatGPT).
Die Grundregeln (laut künstlicher Intelligenz) für Improvisation sind:
- Höre aufmerksam zu: Achte auf das, was deine Mitspieler sagen und tun, und reagiere darauf.
- Sei präsent: Verliere dich nicht in deinen Gedanken, sondern bleibe im Moment und konzentriere dich auf das, was gerade passiert.
- Sei offen für Ideen: Sei bereit, neue Ideen aufzugreifen und auszuprobieren, auch wenn sie dir am Anfang vielleicht unwahrscheinlich erscheinen.
- Akzeptiere Fehler: Fehler sind ein normaler Teil des Improvisationprozesses. Versuche, sie als Möglichkeit zu sehen, dich weiterzuentwickeln, anstatt dich von ihnen entmutigen zu lassen.
- Sei bereit, das Ruder zu übernehmen: Wenn es notwendig ist, übernimm die Führung und leite das Gespräch in eine bestimmte Richtung.
- Sei bereit, das Ruder abzugeben: Wenn jemand anders eine gute Idee hat, überlasse ihm das Ruder und unterstütze ihn bei der Umsetzung.
- Sei mutig: Traue dich, aus deiner Comfort Zone herauszutreten und neue Dinge auszuprobieren.
- Sei flexibel: Sei bereit, deine Ideen anzupassen oder sogar fallen zu lassen, wenn sie nicht gut ankommen oder nicht zum Rest des Gesprächs passen.
- Sei kreativ: Denke außerhalb der Box und versuche, neue und ungewöhnliche Ideen einzubringen.
- Hab Spaß: Improvisation sollte eine unterhaltsame und entspannende Aktivität sein. Vergiss nicht, dass es darum geht, Spaß zu haben und dich zu amüsieren.
Die folgende Aufstellung ist eine Zusammenstellung aus mehreren Quellen welche sich auf Musik-Improvisation übertragen lassen.
Aus „14 Weisheiten für Impro-Spieler“ (Dan Richter)
1. Hab keine Angst
2. Akzeptiere
3. Spiele das Spiel
4. Behaupte
5. Setz dich ein
6. Hör zu
7. Sei wach für Formen
8. Unterstütze deinen Partner
9. Unterstütze die Szene
10. Beobachte deine Umwelt
11. Beobachte die Künste
12. Wisse Bescheid
13. Trainiere
Gebote der Anarchie: von Dr. phil. Doris Kösterke
Diese sind einem Text entnommen der aus Gesprächen mit dem Wiesbadener Improvisations-Ensemble „WIE?!“
Weiterführende Beschreibung hier.
- Du sollst Dich für das Ganze mitverantwortlich fühlen.
- Du sollst Deine Mitspieler achten, wie Dich selbst.
- Du sollst einen Mittelweg suchen zwischen Individualismus und Opportunismus.
- Du sollst Dich nicht darauf verlassen, dass Menschen und Dinge so bleiben, wie sie sind.
- Du sollst dich nicht hinter Wertmaßstäben verschanzen.
(4) Übungen zum Improvisieren
Die hier vorgestellten Übungen sind aus der konkreten Theatermusik-Praxis entnommen und sind in einigen Literaturquellen nachzulesen.
- Nachahmung: Jemand spielt eine Melodie auf seinem Instrument.
- Musiker:innen „kopieren“ alle oder Teile musikalischer Strukturen der Mitmusiker:innen auf ihren eigenem Instrument. Melodien, Rhythmen, Klangfarben, Spielweisen, Harmonien, Pausen.
2. Variation: Es werden Teile musikalischer Strukturen übernommen und verändert.
-
- Melodien der Mitmusiker:innen werden kopiert und verändert.
- Melodien werden nachgespielt aber auf anderen Grundtönen
- Eigene Melodien werden erfunden, man kopiert dabei den Rhythmus der Melodie der Mitmusiker:innen
- Klangfarben von Musiker:innen werden auf das eigene Instrument übertragen: z.Bsp.Überblasen der Klarinette, Klappengeräusche, Flageolettöne
- Harmonien vom z.Bsp. Akkordeon werden aufs Klavier übertragen. Dabei werden Tonhöhen und Akkorderweiterungen addiert oder subtrahiert
3. Neukombination: Es werden musikalische Strukturen spontan neu erfunden.
- Melodien, welche in dem Improvisationskontext noch nicht ertönt sind werden gesucht und wiederholt
- Rhythmen, die noch nicht erklungen sind, werden erfunden
- Seltene und neue Spielarten auf dem Instrument, welche während der Session noch nicht erklungen sind, werden gesucht und wiederholt
4. Gegensätze suchen:
- Wenn liegende Töne gespielt werden, spielt jemand Staccato – Töne
- Wenn jemand hohe Töne spielt, spielt jemand tiefe Töne
- Wenn jemand sehr viel und laut auf seinem Instrument spielt, pausiert man auf seinem Instrument und hört zu
- Werden sehr viele Töne gespielt, spielt jemand nur wenige Töne
5. Rasa:
Rasa ist eine Lehre aus der klassischen indischen Ästhetik bei der mentale Zustände in 9 Kategorien in jeweils 8 Abstufungen eingeteilt werden. Das Rasa-Konzept findet in Theater, Tanz, Musik, Literatur und bildender Kunst bis heute Anwendung und prägt auch das indische Kino. Mit dem Konzept bin ich durch meinen Freund und Musiker Ravi Srinivansan in Kontakt gekommen als wir 2013 am Theater Freiburg die Musik zu “ Gottes Kleiner Krieger“ entwickelt haben.
In dieser Übung werden den jeweiligen Abstufungen einzelne Sätze aus Gedichten zugeordnet. Eine Musikerin sucht sich ein Grundgefühl und eine Abstufung aus. Der Satz wird allen Musiker:innen vorgelesen. Dann erfolgt die freie Improvisation welche durch den Satz inspiriert wird.
Die 8 Grundemotionen in der Rasa-Theorie sind: Liebe, Humor, Wut, Pathos, Ritterlichkeit, Angst, Ekel, Verwunderung
Hier eine Impro über dem Grundgefühl: „Wonderment/Verwunderung, 8. Stufe“ Der dazugehörige Satz lautet: „A Melody coated in Shimmering Ice“
Impro über Angst/Terror 1. Stufe “ Nine Demons dance around my Bed“
Impro über Tranquility/Frieden 7. Stufe „Breathing almost in Unison with the World“. Hier gab es die Anweisung, neben dem Harmonium, ausschließlich die Stimmen der Musiker:innen zu nutzen.
6. Event Horizon
In dieser Übung suchen sich Musiker:innen unterschiedliche Einzeltöne, die ausgehalten werden (sustain). Innerhalb von mehreren Minuten wird ohne Absprache in minimalen Schritten eine Einstimmigkeit (unisono) mit den anderen Musiker:innen angestrebt. Das funktioniert gut mit Blasinstrumenten und Synthis. In diesem Hörbeispiel wurden Tuba, Saxophon, Keyboard und Drums verwendet. Was bedeutet Einstimmigkeit in Zusammenspiel mit Schlagzeug? Hier eine Improvisation dazu mit der Theaterband für das Stück „The Great Gatsby“ am Theater Lübeck 2014.
7. Harmonisieren: Eine Musiker:in spielt eine komponierte oder erfundene Melodie oder Sound. Eine andere Musiker:in harmonisiert die Melodie nach eigenen Kriterien (harmonisch, disharmonisch, Free Jazz etc.)
8. Melodisieren: Jemand spielt eine Abfolge von Mehrklängen auf dem Instrument und eine andere Musiker:in erfindet dazu eine „passende“ Melodie.
9. Visualisieren: Man nimmt ein Bild, druckt es aus und legt es vor die Musiker:innen. Hier können die Musiker:innen ihren Assoziationen freien Lauf lassen. Motive, Farben und Bildstimmungen werden dabei individuell von den Musiker:innen interpretiert und bieten eine konstante Inspirationsquelle und können helfen einen gemeinsamen Vorstellungsraum zu schaffen. ( Das Bild wurde mit der KI-Software Dreamstudio erstellt. Es können Stichworte eingegeben werden aus denen die Software ein Bild entwirft. https://beta.dreamstudio.ai/)
Musik- Improvisation mit mehreren Musiker:innen:
1 .Man spielt eine vorhandene Komposition vom Blatt um das Material kennen zu lernen. In diesem Beispiel habe ich ein Stück komponiert, das als Skizze so klang: (Piano und Gesang „Juchaissa“ für „Faust“ am Theater Klagenfurt, 2020)
Die Anweisung an die Musiker war: Die Struktur des Song sollte erkennbar bleiben, vor allem der Rhythmus.
Tonhöhen, Akkorde, Klangfarben, Spielweisen und Lautstärke sollten variieren. Dissonanz in den Harmonien war ebenfalls erwünscht. Hier wird deutlich, dass am Ende eine neue Klangstruktur erfunden wurde bei der Akkorde, Tonhöhe, Melodien und Spielweise variiert wurden, während die Basis eine konkrete Komposition war zu der die Musiker jederzeit zurückkehren konnten.
Freie Improvisation
2. Lange freie Improvisation (Dauer ca. 55 Minuten): Eine sogenannte freie Improvisation ist im engeren Sinn nicht „frei“. Es gibt einige Regeln, welche vor Beginn der Session verabredet wurden. Die Musik wurde zwar im Kontext des Stücks „Faust 1/2) entwickelt, dennoch wurde die Session für keine konkrete Szene entwickelt. Es ging darum grundsätzlich die Musiker ihr Material finden zu lassen und emergente Zustände zu provozieren.
Diese waren in unserem Fall:
- Akzeptiere das Gespielte und entwickle eine Haltung dazu.
- Schenke den Mitmusikern Zeit und Raum für die Entwicklung ihrer Motive und Techniken
- Unterstütze ihre musikalischen Strukturen durch Nachahmung und Variation
- Gehe bewusst mit deiner musikalischen Reaktion um
- Sei nicht willkürlich
- Sei in Kontakt mit dir und der Band – denke stets den Gesamtklang mit und suche das passende ‚Puzzelteil‘
- Suche nach neuen Klängen und Spielweisen und Sounds auf mehreren Instrumenten und habe Mut zu experimentieren
Hier ein Auszug aus der ersten langen Improvisation mit 4 Musikern (Piano, Bass, Klarinette,Gitarre, Drums, Percussion, Synths)
Improvisation nach Handzeichen:
Das Extrakte-Ensemble aus Berlin geht einen besonderen Weg. Hier wechseln sich komponierte Teile ab mit Handzeichen des musikalischen Leiters ab mit denen er live Handlungsanweisungen an die Musiker:innen gibt. Innerhalb dieser Anweisungen können die Musiker:innen improvisieren. Dadurch ist der Zuhörer Zeuge eines einzigartigen Live – Arrangierens mit improvisierten Teilen. Allerdings kann man kritisieren, dass es den Musiker:innen unmöglich gemacht wird dem individuellen Erleben vollständig Ausdruck zu verleihen. Hier geht es eher um die individuellen Sichtweise des Komponisten als um die Begegnung von Menschen in einem Gedankenraum. Auch hier verändert die Zielsetzung und die damit einhergehende Organisation der Improvisation das Klangereignis.
Die Handzeichen stehen für:
- Solo
- Loop
- Stop
- Improvisiere über dem Stop weiter
- Kopiere
- Zum Ende kommen
- Handzeichen von 1 bis 5 stehen für die komponierten Abschnitte, die vom Blatt gespielt wurden
In dem Video werden die Handzeichen erklärt sowie das gesamte Konzert gezeigt. (vom 6.12.2022 im ACUD/Berlin) Extrakte Ensemble
Experimentelle Improvisation mit mehreren Musiker:innen
Die Übungen sind aus der Literatur entnommen. Ausführliche Beschreibungen der Übungen finden sie hier. (Lilli Friedemann)
Auszüge aus Gesprächen mit Theatermusikern:
Improvisationsmethode des Schauspielmusikers Malte Preuss
Malte Preuss: Es sind, glaube ich, drei lose Anregungen. Ich behalte manchmal Dinge im Kopf, um Jazz zu machen, ohne schulischen Jazz zu machen, der vorschreibt, wie zu improvisieren sei.
1.: Ich hatte auf Jazz bezogen, einen unkonventionellen Gitarrenlehrer (Klaus Brösamle) und von ihm die Übung, auf der Gitarre ungewöhnliche und unvorhersehbare Tonfolgen und Intervalle zu spielen.
2.: Console von The Notwist meinte irgendwo, dass er mit dem Programm Melodyne musikalische Phrasen verformt und so das Programm nicht zum Korrigieren benutzt, sondern eher experimentell.
3.: Es gibt manchmal sehr intime Momente, in denen ich Gitarre ganz anders spiele als sonst, viel mehr den Tönen zuhöre. Und manchmal habe ich dann das Aufnahmegerät angeschaltet und so auch den Raum mit aufgenommen. Diese Aufnahme habe ich dann mit Melodyne digitalisiert und manchmal auch vorher noch verbogen. Diese Aufnahme oder das errechnete Midi File habe ich dann anderen Instrumenten zugeordnet und mit der Gitarrenaufnahme in Melodyne kombiniert und dabei die zweite Improvisation gestartet, in der ich bewusst, soweit mir das gelungen ist, typische harmonische Abläufe vermeidend gebaut habe, bei den Akkordfolgen und bei den Akkorden. Heraus gekommen sind immer Stücke, die ganz eigen klingen.
Auszug des Interviews mit Theater- und Filmmusiker Biber Gullatz:
Gullatz: „… du bist ja in der Situation, dass du dir was anbieten lässt von den Musikern und gleichzeitig auch ein bisschen lenkst oder du vertraust auf die Qualität des Musikers und bist auch überrascht dabei. Diese Sessions sind ja immer interaktiv: du lernst durch die Persönlichkeit des anderen Musikers und bei der nicht notierten Musik, wie ich sie mache, ist dieser Anteil der Musik, die gerade entsteht, höher als wenn sie vorher schon entstanden ist. Bei einem Theaterstück habe ich eigentlich meiner Herkunft als improvisierender Musiker vertraut und immer weniger im Vorfeld etwas komponiert, sondern gehe in den Prozess, der mich ja im Theater erwartet und nicht nur mit den Musikern sondern auch mit den Schauspielern. Meine persönliche Kennlinie war früher sicher ‚Ich muss den Song schon fertig haben‘ und kann nochmal gucken, ob Tonhöhe, Tempo usw. passen. Diese Grenze hat sich weiter in Richtung ‚Sei mal offen und gucke was dich erwartet‘ verschoben. Je weniger Angst ich davor hatte, dass jemand zu mir sagt ‚Du bist ja gar nicht vorbereitet‘, ‚Du weißt ja gar nicht was du machen möchtest‘- je älter und erfahrener ich wurde, hatte ich es leichter empfunden ins kalte Wasser zu springen.
…
Ich hatte früher den Albtraum, den viele haben, dass man irgendwann mal überführt wird, als jemand, der das eigentlich gar nicht kann, was man macht. Das Gefühl kennen viele kreative Menschen, dass sie das Gefühl haben sie machen es zwar die ganze Zeit aber irgendwann kommt mal jemand und sagt „Ich weiß eigentlich genau, dass du das nicht kannst“. Wenn du in dieser Situation bist, gerade mit Schauspielern aber auch mit Musikern habe ich das erlebt, die eine bestimmte Meinung zu etwas haben und nicht so offen sind und dann kann tatsächlich manchmal die Luft etwas dünn werden.
Oft waren es einfache Melodien oder aus dem Herzen kommende Sachen auf der Suche nach Authentizität – und das hat viel damit zu tun, ob du Musiker an deiner Seite hast, denen du dich so offenbarst und sagst „Ich weiß es auch nicht, aber ich spüre da etwas“ und lass uns doch mal reinhorchen und schauen, ob das funktioniert. … Natürlich sucht man sich Musiker mit denen man das Gefühlt hat ‚Da swingt was zusammen‘. Bei der Produktion in Hamburg (Herr der Diebe, Schauspielhaus Hamburg 2022) hatte ich drei potente Livemusiker, die ich seit 15 Jahre kenne und wo man sich gegenseitig sehr schätzt. Am Ende hat man das Gefühl man hat die Musik zusammen entwickelt, auch wenn da steht: Musik Biber Gullatz. Die Flexibilität im Theater, gerade einer Band zu sagen „Wir spielen das Ganze jetzt mal als Walzer oder wir transponieren jetzt weil die Schauspieler:innen gegen Ende der Proben doch ein bisschen höher oder kraftvoller singen können“. Solche Sachen sind natürlich mit einer guten eingespielten Band total möglich.
…
Die erste Session ist ein magischer Moment, wenn nicht klar ist, wer den ersten Ton spielt, wer schlägt auf sozusagen. Auch da wird schon viel vorgegeben: Du hast einen thematischen Kosmos – in diesem Fall ging es um Venedig, ich wollte eigentlich gern eine Geige haben, da es im Stück ein Waisenhaus gab , das eine Musikschule unterhielt, dachte ich daran einen barocken Sound zu kreieren und eine ‚Pattern-Wirtschaft‘ mit barocken Strukturen zu machen. Aber dadurch, dass ich keine Geige hatte und ich aber wusste, dass der Gitarrist auch Mandoline spielt, was ja im Prinzip die selbe Stimmung hat, habe ich angefangen über barocke Progressionen zu spielen. Etwas sehr Einfaches aber das war der Startpunkt wo wir eine Akkordfolge entwickelt haben, die später ein zentraler Bestandteil wurde. Und wie man weiß „First Cut is the deepest“ – manchmal haben die ersten Inspirationen Bestand oder sind intuitiv richtig. Bei allen Sessions habe ich Klavier gespielt oder gesungen und dadurch die Themen entwickeln können. Das war dann immer ein schmerzhafter Prozess für mich, weil man weiß, dass ich am Ende nicht mehr mitspielen werde. Meistens ist es so, dass die harmonischen Strukturen von mir vorgegeben werden um sie in den Sessions nochmal zu korrigieren und interessant ist, wenn ich ganz frei spiele schiebt sich manchmal ein Fünfertakt ein oder die Melodie ist nicht ganz gerade. Es wird bei der Session viel gespielt und aufgenommen, da nichts notiert wird. Wir spielen keine halbe Stunde aber es werden Sessions extemporiert. Wenn man die Musik am Ende im Stück hört, dann wurden die anfänglich 3 – Minuten Songs auf 1,5 Minuten gekürzt. Da blutet einen manchmal das Herz, wo man sich „Kill your Darling“ sagen muss.
Die Texte sind so, wenn ich den Titel des Songs habe, gebe ich das Material dem Regisseur und man trifft sich dann abends im Hotel und dann geht das hin und her- das habe ich als einen sehr schönen Prozess empfunden. Ich spiele live Klavier vor und parallel schreibt der Regisseur Texte in seinen Computer und am nächsten Tag werden die Texte mit den Schauspielern probiert – auch da wird weiter angepasst. Das hatte für alle Beteiligten das Gefühlt sie sind Teil der Entstehung, was ich auch als wichtigen Aspekt im kreativen Moment empfinde. Das fügt dem Ganzen immer auch Persönlichkeit und Identifizierung hinzu. Je mehr die Schauspieler und Musiker Teil des Prozesses sind umso mehr kann man sich damit auch identifizieren.
…
Wenn die richtigen Musiker da sind, ist das für mich immer der lebendigere Prozess als wenn man Musik an den Maschinen macht. Das Theater als Live- Medium bedeutet ja nicht, dass man unbedingt auch live Musik macht. Wenn ich allein vor mich hin bastel, kann man sich z. Bsp. in der Filmmusik in funktionale Techniken retten, weil so viel Kreativität gar nicht notwendig ist sondern die Aufgabe zu erledigen ist Spannungsmusik zu machen. Ich glaube auch, dass der Anteil des wirklich Kreativen ein kleiner Anteil ist. Der viel größere Anteil ist der, wie man es vermittelt was man macht, ausarbeitet und anpasst, wenn man bedenkt wieviel man chatten muss, wieviel man Logistik hat,. auch mit der Technik und mit der Kommunikation.
…
Das schöne an der Improvisation ist ja, dass es kein richtig und falsch gibt, deshalb hilft der Satz von Miles Davis „If you play a wrong note, play it twice“ mit einer großen Offenheit ranzugehen. Selbst wenn man sich man verhaut, ist es keine Bloßstellung. Wenn man mit Musikern spielt, die man seit 15 Jahren kennt, kann man auch gleich loslegen – ich weiß nicht, ob ich das auch mit völlig fremden Musikern genau so machen würde.
Auszug aus Interview mit Theatermusiker Johannes Birlinger
Johannes Birlinger: Mich interessiert die Materialität und zwar was konkretes Material angeht- aus was für einer Welt kommt der Klang- wieviele Schichten gibt es da, wo kommen die Klänge her als auch die Soundquelle- wo kommt Klang raus, also gibt es Surroundklang, versteckte Beschallung am Körper etc.
Ich habe eine Produktion in Oberhausen gemacht (Wetterleuchten), es gab keine Darsteller:innen auf der Bühne. Es war klar es geht um das Theaterhaus selbst mit den Angestellten, den Gewerken etc. geht. Es war klar, dass es Interviews gibt und wir wollten die Klänge aus dem Haus selbst verwenden. Wir ließen das Haus in seiner Materialität zu Wort kommen und dann alle Geräusche aus dem Haus verwenden, also die Drehbühne, Geräusche aus den Werkstätten, die Nähmaschine aus der Posterei, die Neonleuchte aus der Garderobe, der knarzende Gang zum Intendantenbüro. Dann habe ich zusätzlich noch was aus dem Sample-Werkzeugkasten genommen, damit bestimmte Wirkungen erzielt werden konnten- somit war das Musikkonzept ziemlich schlüssig.
…
Improvisation spielt auf ganz verschiedenen Leveln eine Rolle. Es gibt die ganz spezielle Improvisation in den Proben, in der Stück-Entwicklung, eine halbe Stunde Bewegungsimpro von den Tänzer:innen und mach mit und improvisiere mit. Ganz am Anfang habe ich analoge Instrumente dabei wie Akkordeon, Trommeln, pack ein paar Mikros vor die Trommeln (Shaker, Darabuka), hab ein paar Effekte drauf, hab 1 bis 2 Midi-Controller dabei, virtuelle Instrumente vorbereitet in Ableton Live. Ich hab dann ein Kondensatormikrofon dabei und lege mir auf verschiedene Kanäle Effekte dazu wie Reverb, Delay, Frequency Shift, Modulation. Diese Effekte werden alle über den selben Input gefüttert und die schalte ich ggf. dann scharf. So kann ich neben den analogen Instrumenten auf elektronische Mittel zurückgreifen. So kann ich schon mit kleinen verfremdeten Geräuschen schon was machen. So reicht es manchmal das ich einmal auf eine Djembe haue und dann durch die Effekte eine Klangwelt entsteht wozu ich evt. eine leichte Melodie mit einem virtuellen Instrument spiele. So kann ich mit relativ wenigen Aktionen viel Klangliches bauen. Ich versuche das alles auch mitzuschneiden, os dass ich es später auch tatsächlich als konkretes Material nutzen.
Ich improvisiere aber auch häufig mit Einspielern mit Klängen die ich für andere Stücke gemacht habe und mache Mehrspureinspielungen wie Dj´s. Ich fahre zu einen Sound dann kurz einen Beat mit rein um relativ schnell eine Klanglichkeit für Proben zu bauen, die nicht aus klaren erkennbaren Musikkompositionen bestehen, so dass auf einmal Strauß Musik zu hören ist sondern meine akstrakte Musik verwendet wird um ein Gefühl zu bekommen was für die Szene passt.
Kurzer Leitfaden zur Durchführung einer Improvisation mit mehreren Musiker:innen
Dieser Leitfaden kann für Profimusiker:innen sowie für die Improvisation mit Kindern und Laien angewendet werden kann.
Wie eingangs beschrieben, verfolgen Improvisationen immer ein oder mehrere Ziele. Streng genommen gibt es keine freie Improvisation – sie ist stets Brennpunkt gesellschaftlicher, kultureller und persönlicher und materieller Dispositionen.
Egal ob es sich um Solomusiker:innen oder um Bands handelt, welche zu Bühnenereignissen improvisieren – alle Gruppen können als Zusammenarbeitsmodelle begriffen werden, die auf unterschiedlichen Annahmen über Gruppenführung basieren um wirksam für Orientierung, Entscheidungsfähigkeit, Qualität, Reflexion, Schutz und Sicherheit zu sorgen. Die Art der Führung der musikalischen Leiter:innen bzw. die Verständigung über die Selbstorganisation einer Gruppe sind wesensbildend für die Ergebnisse einer Improvisation.
- Vorbereitung:
Was ist das Ziel der Theater-Performancegruppe? Welche inhaltliche Thema wird behandelt? Welche Künstler sind involviert? Wie ist deren Erfahrungshorizont (Laien, Profis)? Wird live Musik gemacht während der Proben und der Aufführungen oder wird die ‚improvisierte‘ Musik am Ende von Tontechniker:innen eingespielt?
Ziel der Improvisation: Es sollten vom der musikalischen Leitung klare Ziele formuliert werden. Diese Ziele entscheiden wesentliche Bedingungen unter denen improvisiert wird. Diese könnten sein:
-
- künstlerische Ziele: einen individuellen unverwechselbaren Klangkosmos schaffen (durch z.B. emergente Zustände: Herausbildung neuer künstlerischer Zustände durch das komplexe Ineinandergreifen verschiedener Elemente wie Spielarten, Instrumente, Stile usw.)
- eine künstlerische Haltung der Band und deren Musik zum Bühnengeschehen entwickeln (Kommentar zum Bühnengeschehen, musikalische Parallelwelt, Erweiterung der Bedeutungen etc.)
-
- pädagogische Ziele: Selbstwirksamkeit der Musiker:innen stärken. (Den Glauben an sich selbst zu stärken ebenso die Fähigkeit des Musizieren, die positiven Einfluss auf die Gruppe haben kann)
- musikalische Fähigkeit verbessern (durch Exploration)
- Selbstvertrauen, Mut stärken, Identifikation stiften
- Kontakt mit seinem „Ich“ herstellen
- Erfahrung mit Unbekannten sammeln (Musik, Objekte, Emotionen, Menschen)
- Gruppengefühl erzeugen
- in Kontakt mit anderen Sicht- und Spielweisen ermöglichen
- Entfaltung der Individualität/Selbstausdruck/Persönlichkeit (z.Bsp. Stärken/Schwächen/Ängste kennen lernen)
-
- kulturelle/politische Ziele: improvisierte Musik als politisches Statement setzen, da sich von tradierten Normen im Musikmachen entfernt wird
- durch Improvisation gewonnen Fähigkeiten die gesellschaftliche Zukunft mitgestalten (z.B. durch experimentelles Erproben von Klangobjekten etc.)
- Die Auswahl der Klangobjekte kann politisch motiviert sein (z.B. weggeworfene Klangobjekte aus verschmutzten Ozeanen, oder der Verzicht auf herkömmliche Instrumente, Abkehr von Traditionen)
- Erprobung neuer Organisationsmodelle innerhalb von Musikgruppen. Gibt es Hierarchien? Wieviel Entscheidungsspielraum haben die Spieler:innen? Wozu möchte man die Gruppe befähigen?
- musikalische Kommunikation und Austausch mit anderen Musiker:innen
- Unterhaltung: Improvisation als Kontemplation für Zuhörer und Musiker:innen, Atmosphäre der Reflexion und Entspannung schaffen
Nachdem die Ziele formuliert sind, kann man sich an die Auswahl der Musiker:innen machen. In manchen künstlerischen Kontexten ist die Auswahl der Beteiligten bereits abgeschlossen, da Entscheidungen ohne musikalische Leitung beschlossen wurden. In vielen Fällen jedoch ergibt sich die Möglichkeit bei der Auswahl der Bandmitglieder mitzuwirken. Hat man erfahrene improvisierende Musiker:innen zur Auswahl oder klassisch ausgebildete Musiker:innen? Ist eine Mischung aus beiden Welten interessant, da man evt. auf ein bestimmtes Instrumentarium zurückgreifen kann? Sind Jugendliche dabei, die auf der Bühne Musik mit Objekten machen sollen oder sogar auf Instrumenten spielen? Gibt es den Wunsch gleich viele Frauen und Männer im Ensemble zu haben? Hier bestimmt das Ziel der Improvisation die Auswahl der Musiker:innen und damit auch die Art und Weise der Durchführung. Durch vergangene Projekte haben sich meist auch Musikerfreundschaften entwickelt, welche eine positive Wirkung auf das Zusammenspiel haben können. So greifen viele Musiker bei der Auswahl auf ihre Netzwerke zurück. Es macht aber auch durchaus Sinn unbekannte Musiker:innen einzuladen, die neue Impulse setzen und emergente Zustände provozieren können.
Durchführung der Improvisation
Wenn die Ziele formuliert und die Gruppe ausgewählt wurde, geht es nun in das erste Treffen. Ich gehe in dem Leitfaden vom schwierigsten Setting aus: einer Gruppe aus Musiker:innen/Performer:innen, die sich noch nie vorher begegnet sind. Alle anderen Fälle, in denen sich Musiker:innen seit Jahren kennen, machen manche Stationen überflüssig bzw. oder beschleunigen Prozesse.
Bevor improvisiert wird, steht der persönliche Austausch der Gruppe im Vordergrund. Private und berufliche Themen können besprochen werden. Hierbei geht es um die Herstellung einer sicheren Umgebung in der sich die Beteiligten wohl fühlen. Dabei kann die musikalische Leitung wertvolle Einblicke in die Herkunft und die Erfahrungen der Musiker:innen gewinnen, die wiederum einen Potentialraum erahnen lassen. Mitglieder können sich untereinander kennen lernen und ebenso eine vertrauensvoll Atmosphäre schaffen.
Danach kann über den „Grund“ für die Auswahl des Theaterstücks und deren inhaltliche Ausrichtung besprochen werden. An dieser Stelle kann das Stück zusammen gefasst oder die Dringlichkeit eines inhaltlichen Themas in der Gruppe besprochen werden. Politische und künstlerische Positionen können so in der Gruppe kennen gelernt und thematisiert werden. Die thematische Auseinandersetzung mit dem Theater-/Performancestück verschafft den Musiker:innen eine wichtige wichtige Voraussetzung um selbstbewusst sich in einer Improvisation zu verorten.
Nun ist es Zeit zusammen mit der Gruppe die Ziele der Improvisation zu beschreiben. Eventuell ergeben sich durch die Gruppengespräche Veränderungen der Ziele und deren Umsetzung. Je nach Erfahrungshorizont der Musiker:innen kann die Ansprache und Auswahl der Übungen variieren.
Wenn es sich um Musiker:innen handelt, die nie bis selten Theatermusik gemacht haben, ist es ratsam Improvisationsübungen zu machen, wie im Kapitel 4 beschrieben. Ich nehme gern die Rasa-Übung um eine assoziative gemeinsame Gedankenwelt zu etablieren und um sich musikalisch kennen zu lernen. Aber auch im Spiel mit erfahrenen Musiker:innen ist es sehr hilfreich die Regeln des Improvisierens (noch einmal) zu beschreiben, da diese keineswegs selbstverständlich Anwendung finden. Die Beschreibung dieser Regeln und auch das Beharren auf diesen, kann Gegenstand der Reflexion im Anschluss an eine Session sein. Je unerfahrener ein Improvisationsensemble ist, umso wichtiger ist es kurze konkrete Übungen durchzuführen, die Lernprozesse bei den Beteiligten ermöglichen. Je erfahrener ein Ensemble ist um so mehr kann die musikalische Leitung ein künstlerisches Ziel formulieren und dieses ansteuern. Je nach Situation kann es Sinn machen auch längere Improvisationen (z.Bsp. 60 Minuten) durchzuführen, da im Laufe der Zeit Musiker:innen sich mehr und mehr trauen auf die Suche zu gehen und ihre Komfortzone verlassen – auch um sich nicht zu langweilen! Ich war jedes Mal erstaunt, welche neuen Sounds gefunden wurden, wenn die Improvisationen recht lang wurden und Musiker:innen neue Spielweisen probierten.
Der erste Ton
Hier kann entweder der Dynamik der Gruppe Freiraum geschaffen werden oder die musikalische Leitung gibt einen Ton, einen Akkord oder einen Sound vor zu dem sich die Band nun verhalten kann. Wichtig an dieser Stelle ist, die Session mit einem Aufnahmegerät mitzuschneiden!
Ich fand es hilfreich den Musiker:innen klar zu machen, dass sie nicht in einen Aktionismus verfallen brauchen, der dazu führen könnte, dass alle Musiker:innen viele Ideen schnell hintereinander produzieren und alle immer spielen. Wenn man die Grundregeln der Improvisation ernst nimmt, ergibt sich daraus eine wartenden, zuhörende Situation in der alle Beteiligten wach füreinander sind und aufeinander reagieren oder eben auch nicht reagieren. So kann es sich ergeben, dass man einem Solo mehrere Minuten zuhört, bevor die erste musikalische Reaktion passiert. Es kann aber auch sein, dass alle Musiker:innen sofort reagieren weil es sich eben richtig anfühlt. Alle Reaktionen ergeben sich aus dem Miteinander, aus dem ‚in Beziehung treten‘ und nicht aus Willkür. Je nach Absprache, wird die Improvisation entweder durch die Zeitbeschränkung beendet oder durch eine thematisches Ende, wie einem Unisono oder einer Stille. Als nächster Schritt ist es ratsam das Gespielte in der Gruppe zu reflektieren, da dies zu neuen Erkenntnissen führen kann und jeder für sich Notizen machen kann, was man gespielt hat.
Reflexion nach Improvisationen:
Die Reflexion über die Improvisation ist ein wichtiger Baustein um Transformationsprozesse innerhalb der Gruppe anzustoßen und Improvisation als Lernraum zu begreifen, in denen Musiker:innen über ihr Tun zu sprechen und neue Erfahrungen machen können. Die hier aufgeführten Kompetenzfelder einer Gruppe sind inspiriert von der „New Work“ – Bewegung. Allen voran sind Aspekte des Buches „Die entfaltete Organisation“ von Joana Breidenbach und Bettina Rollow enthalten. Darin wird über die Zukunft der Arbeit und ihrer „neuen“ Organisationsformen nachgedacht. Die im Buch beschriebenen Modele lassen sich von Teams in Unternehmen mühelos auf die Arbeit in Bands und Theaterkollektiven übertragen.
Nach einer Improvisation kann die musikalische Leitung die Moderation übernehmen. Es können aber auch die Musiker:innen sofort das Wort ergreifen, wenn es den Bedarf gibt.Es kann der Ablauf, die Dynamiken und Klangkonstellationen beschrieben werden. Je nach Ziel der Improvisation kann die musikalische Leitung die Fortschritte und Rückschritte erwähnen und die Beteiligten ermutigen bestimmte Schritte zu wagen. Die Regeln der Improvisation können an dieser Stelle ebenfalls erneut thematisiert werden. Idealerweise kommen alle Musiker:innen zu Wort um ihre Gedanken und ihre Haltung während der Improvisation zu beschreiben. 3 Kategorien sind für die Reflexion zu beachten:
Metareflexion: bezieht sich auf die Fähigkeit, aus der Distanz größere Zusammenhänge zu verstehen und die Frage “ Warum machen wir das Stück gerade?“ zu beantworten. Wenn man Improvisationen verbessern möchte, kommt man nicht umhin zu fragen welchen Sinn die Aktivitäten grundsätzlich machen. Was tun wir mit dem Theaterstück, Performance oder Tanz als Beitrag zur Reflexion über die Welt? Welchen Beitrag hat die Kunst und die anwesenden Musiker:innen innerhalb der oben beschriebenen Ebenen (Mensch, Objekt, Kultur, Gesellschaft)? So gilt es herauszufinden, ob die Musiker:innen mit sich selbst beschäftigt oder mit der Gruppe verbunden sind, also einen gemeinsamen Beziehungsraum teilen. Geübte Leiter:innen stimmen ihre Ansprachen auf solche Wahrnehmungen ab und schauen ob sich die Musiker:innen sicher fühlen, um eigene musikalische Ideen zu erfinden und darüber sprechen können. Aufgabe der musikalischen Leiter:innen ist es transparent zu machen auf welcher Ebene die Aussagen getroffen wurden: aus subjektiver Sicht, auf ein Beziehungsaspekt in der Gruppe oder auf ein musikalisches Geschehen. Fragen wie “ Wie ist es euch während der Improvisation ergangen? Ist die Gruppe ein Organismus oder nur die „Summe“ seiner Teile? Welche musikalischen Entdeckungen habt ihr gemacht? Diese Fragen lenken die Aufmerksamkeit der Musiker:innen auf die Gruppe und verändern, allein dadurch die Atmosphäre und somit auch zukünftige kreative Prozesse.
Potentialität: Menschen mit einem guten Gefühl für Potentialität geben sich meist nicht zufrieden mit starren Zuständen. Sie klammern sich nicht an Vorstellungen wie “ Das haben wir immer schon so gemacht“. Sie fühlen sich sicher genug Grenzen zu öffnen und Menschen zu motivieren, deren Potential sie erkennen aber noch nicht zur Entfaltung gebracht haben. Sie können technische und künstlerische Möglichkeiten von Menschen erahnen und gezielt fordern und fördern. Musikalische Leiter:innen haben eine wage Vorstellung eines Klangkosmos den sie subtil wahrnehmen und durch entsprechende Ansprachen versuchen zu erreichen. Je nach Ziel der Improvisation ergeben sich dadurch unterschiedliche Fragestellungen und Arten der Reflexion.
Multiperspektität:…geht über Empathie hinaus. Es geht um die Fähigkeit Musiker:innen, Tänzer:innen, Performer:innen in ihrer Unsicherheit, Vieldeutigkeit und Paradoxien zur Kenntnis zu nehmen und diese Informationen, die teils widersprüchlich sind, gleichzeitig wahrzunehmen ohne sie zu bewerten oder verändern zu wollen. Dies können Aussagen von Musiker:innen sein, die sich über den Sinn des Theaterstücks streiten, aber auch Spielweisen und Sounds, die von den Beteiligten als „unpassend“ oder „unschön“ wahrgenommen werden. Es kann aber auch sein, dass Musiker:innen als Erstimpuls als „unfähig zur Improvisation“ gebrandmarkt werden, da sie bisher „nur nach Noten“ gespielt haben. Es gilt Menschen mit ihren Lebenserfahrungen ganzheitlich zu betrachten und ihre „Ängste“ vor der Improvisation ernst zu nehmen und durch die Thematisierung im Gespräch einen Möglichkeitsraum zu eröffnen in dem diese Menschen sich sicher fühlen und ab und zu auf Entdeckungsreise gehen dürfen.
Nachbereitung:
Nach der Reflexion kann der Gruppe eine Aussicht auf weitere Proben gegeben werden. Wie sehen die nächsten Proben aus – sind diese zusammen mit dem Tänzer:innen/Perfromer:innen? Sind alle Musiker:innen bei den nächsten Proben dabei?
Nach der Probe bekommen alle Beteiligten die Mitschnitte zugesendet, damit flüchtige Momente festgehalten werden können und als Erinnerungsstütze dienen.